Die Freiheit des Andersdenkenden

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Gewerkschaftliche Gedanken zur Versammlungsfreiheit

Das Jahr ist noch jung und doch gibt es schon wieder Demonstrationen, die europaweit für Schlagzeilen sorgen. Erst versuchten Landwirt:innen die Fähre zu stürmen, mit welcher der deutsche Vize-Kanzler Robert Habeck aus den Ferien kam. Dann legten Protestierende mit ihren Traktoren zahlreiche Verkehrsadern in unserem Nachbarland lahm. Hintergrund der Proteste ist die Ankündigung, einige der Subventionen zu streichen, die landwirtschaftliche Betriebe in Deutschland erhalten.

Es stimmt zwar, dass in der Landwirtschaft deutlich länger gearbeitet wird als im gesellschaftlichen Durchschnitt. Und ich würde der Mehrheit der Landwirt:innen auch ein höheres Einkommen gönnen. Aber 40 Prozent der Landwirtschaftsbetriebe in Deutschland bestehen aus riesigen Höfen und industriell bewirtschafteten Flächen. Ich habe starke Zweifel, dass diese Betriebe wirklich auf subventionierten Diesel und steuerbefreite Fahrzeuge angewiesen sind. Und ich glaube kaum, dass die Subventionen dort eins zu eins an das Personal weitergereicht werden.

Irritierend ist auch, dass der Deutsche Bauernverband – notabene jener Verband, der nun die Proteste anführt – noch im Dezember meldete, die Landwirt:innen seien mit ihrer wirtschaftlichen Lage so zufrieden wie seit zehn Jahren nicht mehr. Tatsächlich sind die Preise für Fleisch, Milch, Weizen und Gemüse in den letzten zwei Jahren um fast 30 Prozent gestiegen. In Folge dessen erwirtschafteten die landwirtschaftlichen Betriebe im Schnitt 45 Prozent mehr als im Vorjahr. Dagegen machen die angedachten Subventionskürzungen nur etwa fünf Prozent des insgesamt hochsubventionierten Sektors aus.

Nicht zuletzt scheinen die Proteste von der politischen Rechten unterwandert zu sein: «Demokraten sorgen für den Volkstod» war auf einem Banner im Regierungsviertel zu lesen. Wutbürger:innen – die Klimakleber noch im letzten Frühjahr als «Terroristen» bezeichneten – lichteten sich nun mit Victory-Zeichen vor Traktor-Barrikaden ab. Viele Landwirt:innen rufen dazu auf die AfD zu wählen, wohl in Unkenntnis der Tatsache, dass deren Wahlprogramm die komplette Abschaffung aller Landwirtschafts-Subventionen vorsieht. Und einen Austritt aus der EU, aus deren Töpfen der Grossteil der Landwirtschaft-Subventionen in Deutschland gezahlt werden!

Obwohl ich keine Sympathie für sie habe, würde ich nie auf die Idee kommen, ein gerichtliches Verbot dieser Proteste zu fordern. Noch viel weniger würde ich sie zum Anlass nehmen die Einschränkung von Grundrechten zu befürworten, etwa durch eine Schwächung des Demonstrationsrechts. Genau das meinte Rosa Luxemburg, als sie «Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden» schrieb.

Ist es nicht erstaunlich, dass eine Kommunistin vor mehr als hundert Jahren liberaler dachte, als der Zürcher Jungfreisinn von heute? Denn dieser bringt am 3. März – gemeinsam mit der Zürcher SVP – eine kantonale Initiative an die Urne, die eine drastische Einschränkung der Meinungsäusserungs- und Versammlungsfreiheit vorsieht: In Zukunft sollen die Organisator:innen von Demonstrationen, gegebenenfalls auch Teilnehmende, die Kosten von Polizeieinsätzen zahlen müssen. Allein die Möglichkeit eine solche Rechnung begleichen zu müssen, wird viele Menschen und Organisationen von der Ausübung ihrer demokratischen Grundrechte abhalten.

Viele Errungenschaften wurden durch Proteste angestossen: Die Altersversicherung, oder das Frauenstimmrecht. Auch der Vaterschaftsurlaub oder die Mindestlohn-Initiativen in Zürich und Winterthur wurden im Fahrwasser grosser Demonstrationen beschlossen. Lassen wir nicht zu, dass SVP und Jungfreisinnige an einem Grundpfeiler der Demokratie sägen!

Björn Resener – Gewerkschaftsbund des Kantons Zürich (GBKZ)

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