Die Berufslehre gilt als Schweizer Erfolgsmodell. Doch die Realität vieler Lernender sieht bitter aus: lange Arbeitstage, Schule, Prüfungen – und nur gerade fünf Wochen Ferien. Während ihre Kolleg:innen an Gymnasien oder Fachmittelschulen 13 Wochen Ferien haben, bleibt Berufslernenden kaum Zeit zur Erholung. Dieses Ungleichgewicht ist nicht nur unfair, es gefährdet auch die Gesundheit und die Zukunft der dualen Berufsbildung.
Eine grosse Unia-Umfrage unter Lernenden hat bereits 2024 deutlich gemacht: Fast die Hälfte der Jugendlichen ist während der Lehre regelmässig gestresst und fühlt sich erschöpft. Viele klagen über zu wenig Ferien und zu lange Arbeitszeiten. Die aktuelle, repräsentative WorkMed-Studie bestätigt das Bild: 61 Prozent aller Lernenden hatten während ihrer Ausbildung psychische Probleme, bei 60 Prozent wurden diese durch die Lehre verstärkt. Rund ein Drittel aller Lernenden ist dadurch im Alltag eingeschränkt, jede:r Fünfte denkt an einen Abbruch. Die Zahlen sind alarmierend – und sie zeigen, dass wir handeln müssen.
Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) fordert deshalb 8 Wochen Ferien für Lernende. Innert weniger Wochen haben über 176'000 Menschen unsere Petition unterschrieben – ein starkes Signal an Wirtschaft und Politik. Mehr Ferien sind kein Luxus, sondern eine Investition: in die Gesundheit und einen erfolgreichen Lehrabschluss. Sie mindern Stress, senken die Zahl der Lehrabbrüche und steigern die Attraktivität der Berufslehre.
Denn die Berufslehre verliert gegenüber allgemeinbildenden Bildungswegen zunehmend an Attraktivität: In vielen Branchen bleiben Lehrstellen unbesetzt, teilweise mangelt es an Qualität in der betrieblichen Ausbildung der Lernenden. Die Folge: Lehrvertragsauflösungen und Durchfallquoten bei den Abschlussprüfungen sind in vielen Branchen viel zu hoch.
Eltern und Jugendliche zweifeln zunehmend, ob die Berufslehre wirklich der «Königsweg» ist. Der Bund hat deshalb das Projekt «Attraktivität der Berufsbildung» gestartet. In der Konsultation wurde klar: Neben faireren Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen braucht es vor allem eine bessere Begleitung, mehr Wertschätzung, Schutz und Mitsprache für Lernende.
Mehr Ferien geben jungen Menschen Zeit, sich zu erholen, aber auch Freiräume für Sport, Jugendarbeit oder eine lehrbegleitende Berufsmaturität. Damit stärken wir nicht nur die individuelle Entwicklung, sondern auch das Engagement in unserer Demokratie.
Ja, es kostet Betriebe etwas, wenn Lernende mehr Ferien haben. Aber die Rechnung geht auf: Studien der der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung (EHB) zeigen, dass ein einzelnes Lehrverhältnis für einen Betrieb einen durchschnittlichen Nettonutzen von über 10'000 Franken bringt und zusätzlich nochmals 10'000 Franken Rekrutierungs- und Einarbeitungskosten für neue Fachkräfte eingespart werden können, wenn Lernende nach der Lehre übernommen werden. Teure Lehrabbrüche, Krankheitsausfälle oder fehlender Nachwuchs wiegen die Kosten von zusätzlichen Ferien bei weitem auf.
Die Petition «8 Wochen Ferien für Lernende» ist erst der Anfang. Sie ist Teil einer grösseren Bewegung für eine Aufwertung der Berufslehre, bessere Arbeitsbedingungen und faire Löhne. Denn wir brauchen gesunde, motivierte und gut ausgebildete Fachkräfte – heute mehr denn je.
Es ist höchste Zeit, die Anliegen der Lernenden ernst zu nehmen: ihnen zuzuhören, sie auf Augenhöhe einzubeziehen und ihre Stimme in der Politik zu stärken. Chancengleichheit darf nicht vom Bildungsweg abhängen. Ob Gymnasium oder Lehre, alle Jugendlichen verdienen faire Bedingungen. Geben wir den Lernenden, was sie verdienen: Respekt, faire Bedingungen – und mindestens 8 Wochen Ferien.
Nicole Cornu - SGB-Zentralsekretärin Bildungspolitik und Jugend