Es gibt Momente in meinem gewerkschaftlichen Engagement, die mich nie losgelassen haben. Einer davon war die Geschichte einer Frau, die als Reinigungskraft arbeitete. Ihr Vorgesetzter machte ihr eindeutige Avancen. Darunter auch pornografisches Material. Als sie ihn zurückwies, wurde sie nicht nur weiter schikaniert, sondern schliesslich entlassen. Diese Ungerechtigkeit hat mir damals als Gewerkschaftssekretärin für den Tertiärsektor vor Augen geführt, wie verletzlich Frauen in prekären Arbeitsverhältnissen sind. Aber das Problem geht weit über diese Branchen hinaus.
Heute, in meiner Funktion als VPOD-Sekretärin für Gleichstellung in der Region Zürich, sehe ich immer wieder, dass sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ein strukturelles Problem ist. Seit dem Start unserer Kampagne "Du bist nicht allein" haben sich Betroffene gemeldet – nicht nur aus klassischen prekären Branchen, sondern auch aus der Kulturbranche und dem Vorschulbereich. Das zeigt, dass kein Arbeitsumfeld davor gefeilt ist. Es zeigt auch, dass es höchste Zeit ist, politisch klare und entschiedene Massnahmen zu ergreifen.
Die psychischen Folgen für Betroffene sind massiv. Angst, Schlaflosigkeit, Depressionen – und all das, während der Arbeitgeber oft wegsieht. Viele Firmen haben bis heute keine klaren Strukturen, um sexuelle Belästigung zu unterbinden. Und noch schlimmer: Oft schützen sie eher die Täter als die Opfer. Arbeitgeber kennen ihre Pflichten nicht oder ignorieren sie bewusst. Die Verantwortung wird auf die Betroffenen abgewälzt, die unter grossem Druck stehen, nicht als "Schwierigkeit" zu gelten und ihren Job zu verlieren. Ein aktueller Fall aus einer Zürcher Gemeinde zeigt dies besonders drastisch: Eine Mitarbeiterin wurde entlassen, nachdem sie sexuelle Belästigung gemeldet hatte – während der Täter unbehelligt blieb. Der Fall sorgte für grosses Aufsehen und ist ein weiteres Beispiel dafür, dass es für Betroffene oft mehr Risiken als Unterstützung gibt.
Doch wer schützt diese Menschen? Die rechtlichen Grundlagen für Schutzmassnahmen existieren bereits, insbesondere im Gleichstellungsgesetz, das unter anderem einen Kündigungsschutz und Schutz vor Rachekündigungen vorsieht. Das Problem liegt jedoch in der mangelhaften Umsetzung dieser Gesetze und in der fehlenden Sanktionierung von Verstössen. Viele Betroffene wagen es nicht, sich zu wehren, weil sie wissen, dass die bestehenden Vorschriften oft nicht durchgesetzt werden oder dass Arbeitgeber sie bewusst umgehen. Was es braucht, ist eine konsequentere Anwendung der bestehenden Gesetze, verstärkte Kontrollen und härtere Strafen für Unternehmen, die ihrer Verantwortung nicht nachkommen.
Hier kommen die Gewerkschaften ins Spiel. Unsere Rolle ist es, das Bewusstsein für dieses Thema zu schärfen, Arbeitgeber zur Verantwortung zu ziehen und politischen Druck aufzubauen. Wir sensibilisieren für die Thematik, indem wir Schulungen und Informationskampagnen organisieren. Gleichzeitig setzen wir uns auf politischer Ebene für stärkere Durchsetzung der Gesetze und für Sanktionen gegen Unternehmen ein, die keine Massnahmen gegen sexuelle Belästigung ergreifen. Unsere Arbeit soll nicht nur Betroffenen helfen, sondern auch strukturelle Veränderungen bewirken, damit solche Vorfälle in Zukunft verhindert werden.
Und vor allem müssen wir für eine Kultur kämpfen, in der sexuelle Belästigung nicht mehr als Randproblem abgetan wird. Es braucht mutige Stimmen, die nicht schweigen. Ich sehe es als meine Aufgabe, diesen Stimmen Gehör zu verschaffen. Die Kampagne "Du bist nicht allein" soll genau das tun: Betroffenen eine Plattform geben, Solidarität zeigen und strukturelle Veränderungen anstoßen. Denn sexuelle Belästigung ist nicht das Problem einzelner Frauen – es ist ein gesellschaftliches Problem, das wir gemeinsam lösen müssen.
Pinuccia Rustico, Regionalsekretärin VPOD Zürich